Sonntag, 6. Juni 2010

Altiplano

Also erst mal: Flo und ich pedalten alleine nach La Paz, Martina hat einen Bus genommen, um in La Paz auf ihre Ersatzteile zu warten. Alleine Busfahren geht ja, das Gepäck ausladen ist komplizierter. So wurde ihr im Busterminal in La Paz auch promt die Lenkertasche gestohlen, zum Glück hatte sie ihre wirklich wertvollen Gegenstände im Rucksack.

Wir sind für einmal schneller als gedacht an einem Ort angekommen. Das hat einerseits damit zu tun, dass der Weg kürzer war als gedacht, andererseits, dass wir weniger Gegenwind hatten als gedacht. Und das ist absolut bemerkenswert.

Angeblich sollten wir ja schon seit längerem auf dem Altiplano sein, wobei wir nicht genau wissen, wo das beginnt bzw. aufhört. Auf jeden Fall haben wir das Plano bisher noch nicht gefunden, nur die Alticolinas. Da gibt es zwar seit dem Paso Jama immer wieder mehr oder weniger flache Ebenen, dazwischen aber auch mehr oder wengier steile Pässe. Nach Potosí hat sich das erst mal ein paar Tage so fortgesetzt. Zuerst ging es rasant fast 20 km abwärts, dann auf und ab und auf und ab. Das übliche Spiel.

Da wir nun zum ersten Mal so richtig auf bolivianischen Strasse fuhren, mussten wir erst mal die hier herrschenden Regeln lernen.
Erstens: Autos hupen einen immer an.
Zweitens: Finde heraus, wieso.
Drittens: Falls Du Nr. 2 nicht gelöst hast, mach' Platz und verlasse die Strasse.

Zu Beginn, wo die Strasse noch eher schmal war, war klar, dass zumindest Lastwagen hupten, um einen von der Fahrbahn zu schicken. Da aber auch PWs an völlig übersichtlichen und breiten Stellen hupten, nahmen wir bald mal an, dass das einfach so viel wie "hallo du da" heisst, und wir juckten nicht mehr jedes Mal zur Seite. Natürlich hupt hier auch der Gegenverkehr, häufig von winken begleitet, das ist die einzige glasklare Situation, die man mit Zurückwinken beantworten kann.

Hier begegneten uns auch viele Fussgänger, die ich immer mit "hola, buen día" grüsste. Dass da zurückgegrüsst wird, ist soweit normal. Interessanterweise sind die Frauen aber meistens viel reservierter als die Männer, die manchmal recht begeistert winken und einem Dinge zurufen, die ich jedoch nie verstanden habe. Es hat jedoch immer positiv getönt. Obwohl wir hier in Bolivien in einem sehr armen Land sind, scheint es die wenigsten der Einheimischen zu stören, dass da "reiche Gringos" herumkurven.

Gegen Abend des ersten Tages stellte sich uns eine andere Frage: wo schlafen. In den Dörfern nach Potosí gab es teilweise noch Hospedajes, je länger der Tag dauerte und je weiter wir kamen, umso kleiner wurden die Käfflis und Unterkünfte gab es keine mehr. Auch einen Zeltplatz zu finden, stellte sich als schwierig heraus, da es kaum ebene Flächen gab und wir wenn möglich ausser Sichtweite von Häusern campen wollten. Und die Region ist "dicht" besiedelt, es wohnen fast überall Leute. Schliesslich fanden wir in einem kleinen Flusstal hinter einem Hügeli ein Versteck für die Nacht.

Am nächsten Morgen ging es erst mal wieder bergauf, was hätte man anderes erwarten können. Kurioses Vorkommnis: Mein Tacho hatte irgend einen Schaden weg und zeigte immer so 5-15 km/h zuviel an. Die Kilometeranzeige schien jedoch zu stimmen. Keine Ahnung, womit das zusammenhängen könnte, jedoch war es etwas frustrierend, wenn da 12 km/h angezeigt waren und ich genau wusste, dass ich nicht schneller als mit 5 km/h den Hügel hochkroch. Da wir uns hier aber im Land der Alpakas befanden, bot der Anblick der bunten Tiere ab und zu etwas Abwechslung.



Landschaftlich war der zweite Tag sehr ähnlich wie der erste. Die Strasse führte entlang eines Berghanges, immer wieder durch kleine Dörfer, wo die Hauswände mit Wahlsprüchen vermalt waren. "Evo de nuevo" war etwas vom häufigsten, anscheinend steht die Region um Potosí zu ihrem Präsidenten. Die Dörflis entlang der Strasse scheinen auch mehrheitlich am Stromnetz angeschlossen zu sein und wirken generell ein wenig moderner (z.T. mit verputzten Mauern und Wellblechdächern) als die Siedlungen auf der anderen Talseite, die eher so aussehen, als hätte sich dort in den letzten 500 Jahren kaum was verändert. Die Gebäude sind aus selbstgemachten Lehmziegeln gebaut, die immer die gleiche Farbe haben, wie die Erde rundherum: rot, gelblich, braun oder grau, alle mit Strodächern. Meist erkennt man diese Dörfer aus der Distanz kaum, sie sind perfekt getarnt.



An den Berghängen um die Dörfer herum erstrecken sich meistens dutzende kleine, inzwischen meist kahle Felder. Warum die Leute die Felder nicht in den Talböden anlegen, ist uns nicht ganz klar, auf jeden Fall sehen die Hänge oft aus wie Plätzchendecken. Dass solche hochliegenden Felder nur funktionieren, weil hier alles von Hand bearbeitet wird, ist klar. Der Abtransport der Ernte erfolgt entweder mit Eseln oder auf dem Rücken der Leute.



Das zweite Nachtcamp war weniger gut als das erste. Die Mauer, hinter der wir uns installierten, war nicht sehr hoch und wir mussten erst einige Dornbüschlis roden, bevor wir das Zelt aufstellen konnten. Ob nun irgendjemand wusste, dass wir da waren, oder nicht, passiert ist nichts. Da wir das Höhenprofil der Route hatten, wussten wir, dass wir am nächsten Morgen das "Plano" erreichen sollten. Vorher sollte es jedoch nochmals kräftig aufwärts gehen, hoffentlich ohne den fiesen Gegenwind, der uns am Tag davor das Leben schwer gemacht hatte.

Die Sache mit dem Wind klappte nur teilweise. Dafuer kamen wir in eine landwirtschaftlich immer stärker genutzte Region, wo sich die Felder auch im Tal unten befanden und zum Teil noch nicht abgeerntet waren. Dort sahen wir auch Leute bei der Arbeit. Eine ältere Frau warf irgendwelche Körner in die Luft, so wie man es bei uns bis vor ein paar hundert Jahren auch gemacht hatte, um die Körner von den Schalen zu trennen. Andere Leute liessen Esel im Kreis um einen Haufen Grünzeug laufen. Wozu das genau diente, wissen wir nicht genau, wir nehmen an, so wird gedrescht.



An jenem Nachmittag erreichten wir Challapata, ein kleines Städtchen zwischen Potosí und Oruro. Als wir auf der Suche nach einer Unterkunft umherfuhren, sprangen auf einmal zwei kleine Knirpse auf, liefen uns nach und riefen "Gingo, Gingo!" Dieses in Peru angeblich eher lästige Ritual liess uns hier laut auflachen. Die beiden Winzlinge, vielleicht etwa vier Jahre alt, brachten noch nicht mal ein korrektes R raus. Woher die beiden die Idee dazu hatten, ist uns schleierhaft, hier macht das sonst nämlich niemand. Da wir an jener Hauptstrasse nicht fündig wurden, kehrten wir um, um ins Zentrum zu fahren. Dabei passierten wir unsere beiden kleinen Freunde nochmals und amüsierten uns noch einmal über ihr mit Inbrunste gerufenes "Gingo, Gingo!".

Wir fanden schliesslich die einzige Residencial des Städtchens und genossen erst mal eine warme Dusche. Beim anschliessenden Einkaufen begegnete uns eine der ulkigsten Gestalten bisher: Ramiro, el Conejo, ein etwa 60-jähriger, ehemaliger 800 m-Läufer. Nach längerem Plaudern überredete er uns zum Essen im "Restaurant" seiner Frau, wo er uns Gesellschaft leistete und über sich erzählte. Er hatte im Jahr 1979 an der Universiade in Mexico City teilgenommen als einer von sieben bolivianischen Sportlern und war (zu Recht) extrem stolz darauf. Diese Teilnahme wurde den Bolivianern von der mexikanischen Universität bezahlt, da ihr eigener Staat dafür kein Geld hatte. Er konnte auch verlegen darüber lachen, dass eine Frau damals schneller rannte als er, was ihn sehr sympatisch machte. Da er studium- und arbeitsbedingt immer nachts zwischen 22 und 23 Uhr trainieren mussten, und es auf dieser Höhe um diese Zeit bekanntlich sehr kalt ist, bekam er irgendwann Knieprobleme und musste mit dem Sport aufhören. Nach dem allgemeinen Geschichtenerzählen spielte er uns auf seiner Guitarre vor. Eines der Lieder hatte angeblich Evo Morales vor langer Zeit im selben Lokal vorgetragen. Wir hatten am Abend leider keine Kamera dabei und der Fototermin am nächsten Morgen hatte nicht geklappt.

Die Etappe nach Oruro war wie erwartet flach. Endlich im richtigen platten Altiplano!



Leider wurde mir da schon nach ein paar Stunden langweilig, aber was soll's, wir kamen schnell voran. Und wir stellten sogar einen neuen Rekord auf: 120 km an einem Tag, und das ohne Rückenwind. Allerdings auch ohne Gegenwind. Dass wir in die Nähe einer Grossstadt kamen, merkte man einige Kilometer vor Oruro deutlich. Der Verkehr nahm zu, und der bisher überraschend rücksichtsvolle Fahrstil wurde rauer. Wirklich spannend wurde es am Stadtrand. Dort begann das übliche südamerikanische Chaos mit Autos, Bussen, Lastwagen, Fussgänger und Marktständen. Oruros Strassen sind eng und chronisch verstopft. Mir drehte es fast den Magen um, so voller Abgasen war die Luft. Dank der Hilfe eines netten Einheimischen fanden wir aber die schon vorher im Buch ausgewählte Residencial innert nützlicher Frist (d.h. bei Tageslicht).

Oruro wird im Bikebuch als eher bedrückende, sterbende Minenstadt beschrieben. Wir haben die Stadt als quirrlig und lebendig kennen gelernt. Zu unserer Überraschung fand an jenem Abend ein langer Umzug mit viel Musik statt, der sich als 25-jähriges Jubiläum des Collegios Comibol herausgestellt hat. Und da feierten die anderen Schulen der Stadt mit und blockierten laut musizierend das ganze Zentrum.



Den richtigen Weg aus der Stadt heraus zu finden, war nicht ganz einfach, da es keine Strassenschilder gibt. Wir schafften es aber tatsächlich, die letzten Kilometer vorbei an Baustellen, die zwischendurch als Müllhalden verwendet werden. Wir fanden das wiederlich, aber die Schweine und Hunde, die dort auf Futtersuche waren, fanden es wohl praktisch. Viel passierte an jenem Tag nicht, es war mehrheitlich platt, abgesehen von ein paar kleineren Wellen in der Landschaft. Llamas gab es seit Challapata kaum mehr, dafür wieder viele Schafe und Rinder. Gegen 17 Uhr kamen wir in einem Dorf mit Hospedaje an, da wir aber unser Tagessoll von etwa 90 km noch nicht erreicht hatten, fuhren wir weiter in der Hoffnung, im nächsten Dorf, das immerhin auf der Karte verzeichnet war, was zu finden. Fehlanzeige, zwei Dörfer weiter soll es angeblich etwas geben. So weit wollten wir aber nun auch nicht mehr. Ein paar Kilometer weiter fanden wir einen brauchbaren Platz hinter einer Backsteinmauer, die eine Art Betonbühne davor hatte. Keine Ahnung, was das war, aber die Mauer bot Sichtschutz zur Strasse. Bis es dunkel wurde, spatzierten eine Schafherde auf dem Heimweg und andere Leute mit Tieren vorbei, es schien sich jedoch niemand an unserer Anwesenheit zu stören. Zur Sicherheit schlossen wir die Velos ans Zelt an, es versuchte jedoch niemand, irgend etwas zu klauen.

Nach einem weiteren ereignislosen, verkehrsreichen Tag fuhren wir in Calamarca ein. Das ist eine weitere kleine hübsche Siedlung and der Strasse, gemäss Bikebuch mit Unterkunft. In der Realität gab es die aber leider nicht, wie uns widerholt bestätigt wurde. Wir sollten zum Haus des Pfarrers, dort gäbe es eine Art Quartier. Das war zwar nur ein leerer Raum und ohne Fenster, unsere Ansprüche waren aber nicht hoch und eine Alternative hatten wir eh nicht. Dazu war die Übernachtung gratis, contribución voluntario, man konnte freiwillig etwas bezahlen, für den Strom (es gab eine Lampe). Haben wir natürlich gemacht.

Am Abend erhielten wir noch ein SMS von Martina, wir sollen tags darauf früh aufstehen, sie warte in La Paz mit einem Barbeque auf uns. Wir wunderten uns zwar noch, wo sie denn wohnte, stellten aber den Wecker auf 5.30 Uhr. Wir hatten immerhin noch 60 km vor uns und mussten dann Martina in einer riesengrossen, unbekannten und chaotischen Stadt finden.

Die ersten Hälfte der Strecke war nicht sonderlich aufregend, das Gleiche wie in den Tagen zuvor, ausser immer dichter bewohnt. Dann standen wir auf einer kleinen Anhöhe und schauten auf El Alto und die dahinterliegende Smogschicht hinunter. Und da wollen wir wirklich hin. Flo meinte, nein, aber wir müssten trotzdem gehen.



Nach einer Weile in El Alto wurde es anspruchsvoller. Die Kleinbusse, die den örtlichen ÖV darstellen, wurden immer mehr und mehr. Die halten ohne Warnung am Strassenrand an und fahren ebenso ohne Warnung wieder ab. Und da wir, immer möglichst korrekt, am rechten Strassenrand fahren, schnitten die uns dauernd den Weg ab, bremsten uns aus und nervten langsam aber sicher gewaltig. Je dichter wir ans Zentrum von El Alto kamen, umso absurder wurde der Minibusverkehr. Die Strasse war dreispurig und komplett verstopft von haltenden Bussen. Am Strassenrand befanden sich Geschäfte, die mehrheitlich mit Autos zu tun hatten, dazu Marktstände, die alles mögliche und unmögliche anboten. Zwischen all den Büsslis drängten sich natürlich Leute durch, die ein- und aussteigen wollten. Das dauernde Gehupe muss wohl kaum mehr erwähnt werden.

Nach eineinhalb Stunden erreichten wir die Mautstelle vor der Autobahn, die ins Zentrum von La Paz hinunterführt. Da wir noch nie Maut bezahlen mussten, fuhren wir bei einer geschlossenen Spur durch und bemerkten gerade noch knapp das "No bicicletas"-Schild. Zu spät, wir sind schon drin. Etwas weiter unten gab es am Strassenrand einen Mirador, von wo aus man eine spektakuläre Sicht auf La Paz hat.

La Paz mit Cerro Illimani im Hintergrund


Und dann ab durch die Mitte. Bzw. natürlich wieder brav am rechten Strassenrand auf einer kaum benutzten Spur, die möglicherweise eine Art Pannenstreifen darstellt und ganz schön uneben und holprig war. Logischerweise gibt es hier auch entlang der Autobahn Bushaltestellen. Und Passerellen zu den angrenzenden Quartieren. Und dort, wo es keine Passrelle gibt, latschen die Leute halt quer über die Strasse. Klar, wie sollte man sonst zur Haltestelle kommen? Wobei Haltestelle sowieso relativ ist, die Busse halten einfach dort, wo Leute stehen und winken.

Aber auch der Begriff Autobahn ist relativ. Dort gingen nämlich auch Leute spatzieren und joggen und irgendwo an der Böschung hat ein Feuer gebrannt. Dass da zwei illegale Velofahrer durchflitzten, scheint niemanden gewundert zu haben.

Im Zentrum von La Paz angekommen, wurde es erst richtig unterhaltsam. Dank der Hilfe einer jungen Dame fanden wir das Touri-Office an der Plaza del Estudiante. Schlauerweise ist das Büro aber samstags und sonntags geschlossen. So fragten wir halt die dort herumstehenden Polizisten nach der Adresse, die uns Martina durchgegeben hatten. Und erhielten die Antwort ohne dafür bezahlen zu müssen! Immer geradeaus auf der grossen Avenida 6 de Agosto. Natürlich war das Chaos im Zentrum nicht kleiner als in El Alto, Minibusse hier, Minibusse dort und alle halten, wo es ihnen gerade passt. Also verkehrsorganisatorisch hat La Paz noch viel Potenzial! Aber irgendwie kamen wir vorwärts und nach der rasanten Abfahrt von El Alto ging es jetzt nochmals fetzig bergab bis ins Quartier Obrajes. Dort suchten wir nochmals recht lange bis wir die gewünschte Adresse fanden. Das Barbeque war gerade erst in den ersten Vorbereitungen.

Aber wer sind die Leute, bei denen sich Martina einquartiert hatte? Luisa und Chrisian führen hier in La Paz eine Casa de Ciclista mit Internetcafé und kleinem Restaurant. Normalerweise haben Casas de Ciclistas gratis Unterkunft für Velofahrer, hier gibt es drei Familien, die Tourenfahrer aufnehmen. Nicht ganz, aber fast gratis. Da sind wir nun auch und versuchen, uns ein Bild dieser Megastadt zu machen und nötige Besorgungen wie z.B. neue Rückspiegel zu machen.

1 Kommentar:

  1. Welcome to La Paz. Smile, you're on candid camera... :-D

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